Unterthema: Prometheus - EG fördert Verkehrssysteme
Während bereits in normalen Verkehrssituationen eine Fülle von Informationen verarbeitet werden muß, ist höchstes Reaktionsvermögen gefragt, wenn beispielsweise auf einer kurvenreichen Landstraße plötzlich Wild im Scheinwerferlicht auftaucht. In Bruchteilen einer Sekunde muß der Fahrer Entscheidungen treffen, Ausweich- und Bremsmanöver durchführen und gleichzeitig andere Verkehrsteilnehmer beobachten. Kaum vorstellbar, daß ein elektronisches System jemals solch komplexe Aufgaben wird bewältigen können.
Der vollautomatische PKW-Autopilot ist tatsächlich noch Zukunftsmusik, und doch hat ein bei Daimler-Benz entwickeltes Projekt einen beachtlichen Entwicklungsstand erreicht. Mit 80 km/h steuert der Versuchs-PKW `VITA´ (Vision Technology Application) sicher über Deutschlands Straßen. Kernstück ist ein Bildverarbeitungsrechner des Parallelrechner-Pioniers Parsytec, der über Videokameras das Straßenbild analysiert und entsprechende Lenkkommandos errechnet.
Das Projekt ist Bestandteil von Prometheus, einer EG-Initiative zur Entwicklung von elektronischen Hilfen für PKW-Lenker. Ganz unabhängig davon, ob dieses oder andere Prometheus-Projekte eine sinnvolle Lösung des Verkehrsproblems darstellen, ist VITA aus technischer Sicht ein interessantes Beispiel für den derzeitigen Stand der Bildverarbeitungstechnologie.
Die im VITA-Projekt eingesetzte Bildverarbeitung erfolgt in drei typischen Schritten: Vorverarbeitung, Segmentierung und Interpretation.
Das digitalisierte Bild durchläuft zunächst eine Vorverarbeitung, um zum Beispiel Störeinflüsse oder nicht relevante Informationen herauszufiltern. Das Ziel ist, die Datenmenge und damit den Rechenaufwand in den nachfolgenden Schritten zu reduzieren. Häufig kann man die Datenmenge leicht halbieren, indem man die Farbinformation ignoriert und nur ein Graustufenbild weiterverarbeitet.
Im Anschluß erfolgt das eigentliche Verstehen des Bildes, wofür in der BV-Terminologie der Begriff `Segmentierung´ gebräuchlich ist. Mittels geeigneter Verfahren und Algorithmen werden die relevanten Bestandteile des Bildes lokalisiert und durch Merkmalsextraktion weiterverarbeitet. Eine solche Extraktion ist beispielsweise das Erkennen der Fahrbahnränder und die Annäherung durch Linien.
Der letzte Schritt ist die Interpretation und Klassifikation des auf diese Weise abstrahierten Bildes, also die Erzeugung von Aussagen wie `Fahrzeug zu weit rechts´ oder `Fahrbahn schwenkt nach links´.
Dagegen ist die Merkmalsextraktion ein viel flexibleres Verfahren und bietet sich an, wenn die zu erkennenden Objekte mit unterschiedlicher Form und Gestalt und in komplexen Umgebungen auftreten. Bei Fahrbahnrändern sind dies ein deutlicher und eng begrenzter Helligkeitswechsel, der annähernd in Fahrtrichtung verläuft. Der entscheidende Trick aber, mit dem die VITA-Ingenieure eine hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit und Fehlertoleranz erreichen, besteht darin, ein Modell des typischen Verlaufs einer Fahrbahn zu implementieren.
Das TIP-System von Parsytec für verteilte Bildverarbeitung basiert auf Transputer-Modulen, die sich über einen speziellen Hochgeschwindigkeitsbus zu Multiprozessorsystemen vernetzen lassen.
Mit mathematisch-geometrischen Modellen einer Straße kann man deren Verlauf vorhersagen und die Analyse auf kleinere Bildfenster beschränken. Ein solches Modell besagt, daß Straßen aus Geraden, Kreisabschnitten und Klothoiden zusammengesetzt sein müssen. Unter einer Klothoide ist ein Bogen zu verstehen, dessen Krümmungsgrad linear mit der Bogenlänge anwächst oder fällt. Zusätzlich geht man davon aus, daß es sich bei einer Straße um eine annähernd planare Fläche handelt. Die Zerlegung in kleine Fenster ermöglicht zudem eine Lastenverteilung auf verschiedene, gleichgestellte Instanzen und den Einsatz von Multiprozessorsystemen. Die so zusätzlich zur reinen Rechenzeit gesparte Transferzeit trägt zur weiteren Steigerung der Analysegeschwindigkeit bei.
Das Straßenmodell wird auch benutzt, um aus dem zweidimensionalen Kamerabild dreidimensionale Informationen zu gewinnen, aus denen wiederum Weglängen und Abstände berechnet werden können. Dies geschieht, indem man das Aufnahmesystem als Lochkamera behandelt und annimmt, daß sämtliche einfallende Lichtstrahlen durch einen Punkt in der Objektivebene gehen müssen. Somit kann mit Hilfe des Strahlensatzes eine Beziehung zwischen Gegenstands- und Bildkoordinaten hergeleitet werden. Bei Kenntnis der Brennweite sowie des Kamerastandortes im Versuchsfahrzeug läßt sich die Entfernung zu beliebigen Punkten ermitteln.
Die durch die Lokalisierung der Fahrbahnbegrenzungen ermittelten Fahrbahnkoordinaten werden ebenfalls in das zuvor beschriebene Modellierungsschema eingearbeitet. Zunächst werden aus den Bildinformationen die Anfangskrümmung sowie die konstante Krümmungsänderung der Fahrbahn-Klothoide bestimmt. Das ist immer möglich, da auch Geraden wie spezielle Klothoiden behandelt werden können. Zudem ist das System in der Lage, die Straßenbreite zu bestimmen. Die so gewonnenen Daten ermöglichen schließlich ein autonomes Steuern des Fahrzeuges auf hindernisfreier Fahrbahn.
In einer zweiten Entwicklungsstufe sollen auch vorausfahrende Fahrzeuge erkannt werden, wodurch das richtige Abstandhalten und Überholen möglich wird. Hier bedient man sich ebenfalls eines modellgetriebenen Ansatzes und nutzt aus, daß Fahrzeuge in ihrer Rückansicht eine ausgeprägte Achsensymmetrie aufweisen. Indem die Bilddaten auf dieses Merkmal hin untersucht werden, kann ein vorausfahrender PKW erkannt und seine Position berechnet werden. Dieser Vorgang ist relativ unabhängig von der Spurverfolgung und läßt sich daher leicht in weiteren, parallel geschalteten Prozessoren ausführen.
Ein kompletter Bildbearbeitungszyklus erfolgt innerhalb von 0,08 Sekunden. Dieser Wert garantiert eine bei typischen Autobahngeschwindigkeiten ausreichend stabile Steuerung. Selbst bei der gleichzeitigen Verfolgung von mehreren Fahrspuren waren die LLV-Transputer nur zu 50 bis 75 Prozent ausgelastet. Auf einer im August 1991 durchgeführten, 130 km langen Autobahnfahrt von Stuttgart nach Ulm und zurück bewies das System seine Funktionstüchtigkeit. Nur bei der Ausfahrt Mühlhausen war es nicht sicher, ob es der Ausfahrt folgen oder auf der Geradeausspur bleiben soll. In engeren S-Kurven mußte ebenfalls manuell korrigiert werden, weil das Fahrzeug einen konstanten Abstand zum Fahrbahnrand einhält und in Kurven nicht wie ein menschlicher Fahrer versucht, die Ideallinie zu finden.
Videosicht des Steuerungssystems mit eingeblendeten Kontrollwerten der Fahrspurverfolgung. Die grünen Vierecke kennzeichnen Fenster, in denen nach signifikanten Informationen gesucht wird.
Das dynamische Lenkverhalten wird übrigens von der Gesamtregelcharakteristik des Systems bestimmt, die eigentliche Bildverarbeitung erzeugt lediglich die Positionsmeldungen. Die VITA-Entwickler probierten neben einer klassischen PID-Regelung auch ein neuronales Netz. Es wurde darauf trainiert, stärkere Abweichungen mit einer möglichst geringen Änderungsgeschwindigkeit des Lenkwinkels auszuregeln, und zeigte im Test ein deutlich `menschlicheres´ Verhalten als der PID-Regler.
Der in 1991 eingesetzte VITA-Prototyp besteht aus einer Multiprozessorarchitektur mit Transputern vom Typ T800.
Zu den hohen lokalen Rechenleistungen gehört auch ein entsprechend schnelles Kommunikationssystem zwischen den Prozessorboards. Da VME- oder andere Bussysteme die Anforderungen nicht erfüllen, kommunizieren die TIP-Module über einen speziellen 32-Bit-Hochleistungsbus. Der TIP-Bus ist dank seiner Übertragungsleistung von kontinuierlich 100 MByte/s in der Lage, digitalisierte Videosignale in Echtzeit zu übertragen. In geplanten Ausführungen sollen sogar bis zu 500 MByte/s möglich sein.
Zudem enthält das TIP-System eine DVL-Schnittstelle (Digital Video Link), über die BV-Module anderer Hersteller angeschlossen werden können. DVL ist ein 1990 gestartetes Vorhaben zur De-facto-Standardisierung von digitalen Videoschnittstellen. Die früher oft system- und herstellerabhängigen Übertragungseinheiten für Videodaten erhalten mit DVL ein Standard-Interface zur Kommunikation. Der auch als Deutscher Videobus bezeichnete Standard arbeitet bitseriell und erreicht eine Transferrate von effektiv 15 MByte/s. Über DVL läßt sich TIP zum Beispiel mit speziellen VME-Bus-Karten der Firma Eltec koppeln, die die im Videobild vorhandenen Kanten in Echtzeit extrahieren und vektorisieren. (be)
[2] P. Haberäcker, Digitale Bildverarbeitung, Grundlagen und Anwendungen, Hanser Verlag, München 1991
[3] U. Franke, S. Ullrich, Modellgestützte Echtzeitbildverarbeitung auf Transputern zur autonomen Führung von Fahrzeugen, aus: R. Grebe, C. Ziemann (Hrsg.), Parallele Da- tenverarbeitung mit dem Transputer, Springer-Verlag, Heidelberg 1991
Andere Forschungsschwerpunkte sind Leitsysteme zur Stauvermeidung, wie zum Beispiel das von Siemens und Bosch in Berlin durchgeführte Projekt LISB, das entsprechend ausgerüstete Fahrzeuge per Datenfunk durch den Stadtverkehr lotst. Projekte wie das Stuttgarter STORM erproben kooperatives Verkehrsmanagement und beziehen auch Park-and-Ride, Busse und Bahnen in die Routenempfehlungen mit ein. Kritiker halten den Ansatz von Prometheus allerdings für verfehlt und bemängeln, daß viel Geld an den falschen Stellen ausgegeben wird. Konzepte gegen den täglichen Verkehrskollaps müßten nicht die Lenkung, sondern in erster Linie die Vermeidung und Verminderung von Verkehr zum Ziel haben.
Bis Ende 1994 wird das Bundesforschungsministerium die zur Zeit 30 Projekte noch mit 30,3 Millionen Mark fördern. Die Industrie will im gleichen Zeitraum 70 Millionen Mark investieren.